Tägliches Training, Teil 2: Fingerfertigkeit

Im zweiten Teil der Reihe „Tägliches Training“ widme ich mich dem Thema Fingerfertigkeit. Grundlage für das Training sollen hier die Etüden Nr. 3, 4, 5 und 17 aus der Schule der Geläufigkeit und Fingerfertigkeit Op. 135, Heft 1 von Hans Sitt (Friedrich Hofmeister Verlag) sein, aus denen ich vereinzelt zitiere.

Eine Einleitung

Klar, ich hätte einfach die von mir favorisierten Etüden auflisten können. Ich hätte einfach etwas zu meinem Übetempo, zum zeitlichen Umfang und vielleicht noch etwas zu einigen Stellen erzählen können. Aber das sind Informationen, die nur am Rande interessant sind, wenn es darum geht, sich solchen Übungen zu nähern. Ich habe mich daher entschlossen, etwas ausführlicher zu beschreiben, wie man sich den Geläufigkeitsübungen nähern, sie erfassen und lernen kann und wie eine sinnvolle Arbeit mit ihnen aussieht. Der Text ist in mehrere Abschnitte eingeteilt, die ich jetzt kurz zusammenfasse.

Inhaltsübersicht

Im ersten Abschnitt stelle ich die ausgesuchten Etüden vor. Der zweite Abschnitt beschreibt, wie die Etüden strukturell erfasst werden können, um sich ihnen initial zu nähern. Die Perspektiven des Lernens und die dafür angebrachten Methoden werden im dritten Abschnitt aufgezeigt. Der vierte Abschnitt schließlich definiert Ziele und Wege, die in der Arbeit mit diesen Etüden anvisiert und erreicht werden können.

Ich wünsche gute Unterhaltung bei der Lektüre!

1. Die Etüden – eine Übersicht

Etüde Nr. 3

Bild 1: Zitat aus Sitt, H. (Friedrich Hofmeister): Schule der Geläufigkeit, Op 135, Heft 1, Nr 3

Etüde Nr. 4

Bild 2: Zitat aus Sitt, H. (Friedrich Hofmeister): Schule der Geläufigkeit, Op 135, Heft 1, Nr 4

Etüde Nr. 5

Bild 3: Zitat aus Sitt, H. (Friedrich Hofmeister): Schule der Geläufigkeit, Op 135, Heft 1, Nr 5

Etüde Nr. 17

Bild 4: Zitat aus Sitt, H. (Friedrich Hofmeister): Schule der Geläufigkeit, Op 135, Heft 1, Nr 17

2. Struktur der Etüden erfassen – Verringerung der Lernkurve

2.1. Verringerung der Lernkurve

Zunächst möchte ich einige allgemeine strukturelle Eigenschaften der Etüden feststellen, um anschließend auf einige Besonderheiten einzelner Etüden einzugehen. Das Erfassen der strukturellen Eigenschaften eines Stücks – ganz gleich ob es sich um eine Etüde oder ein anderes Werk handelt – verringert die Lernkurve desselben in erheblichem Maße. Was sich auf den ersten Blick wie ein Haufen schwarzer Flecken offenbart, gewinnt zunehmend an Sinn und gibt Handlungsorientierung.

2.2. Fragen zur Erfassung der Struktur

2.2.1. Taktart und Tonart, Art des Werkes

Die Struktur zu erfassen ist relativ simpel, und die entscheidenden Fragen, die ich mir als Musiker stelle sind hierbei zunächst : Welche Taktart(en), und welche Tonart liegt dem Stück zugrunde? Das ist schnell geklärt, deshalb suche ich in der Folge nach weiteren Eigenheiten des jeweiligen Stücks. Im vorliegenden Fall handelt es sich um Etüden, und zwar Etüden zur Geläufigkeit der linken Hand. Diese beiden Informationen sind nicht uninteressant, auch wenn sie zunächst trivial erscheinen.

Weil es sich um Etüden handelt, ist davon auszugehen, dass mit dem Stück ganz bestimmte Dinge trainiert werden sollen. Die Frage ist also, was genau trainiert werden soll. Die Antwort liegt auf der Hand, es soll die Geläufigkeit der linken Hand trainiert werden. Auch das erscheint zunächst trivial, aber hierin steckt die wesentliche Erkenntnis, dass ich meinen Focus und mein gesamtes Handeln beim Spielen einer dieser Etüden genau darauf auszurichten habe, die Geläufigkeit der linken Hand und alles, was dazugehört zu trainieren. Es handelt sich eben primär weder um eine Bogenübung, noch eine Übung zur Dynamik oder des Lagenwechsels oder etwas anderem. Verliere ich dies aus dem Blick und spiele das Stück nur ab, um es durchzuspielen, ist die ganze Sache witzlos.

2.2.2. Strukturell-motivischer Aufbau der Etüden

Mit dieser Erkenntnis kann ich direkt weitergehen. Allen oben genannten Etüden ist gemein, dass mehr oder weniger taktweise im Legato gespielt wird. Das bedeutet zunächst, dass der Bogen während der Ausführung einer Figur nicht viel zu tun hat. Ja, in den Etüden 3 und 4 findet nicht einmal ein Saitenwechsel innerhalb des Strichs statt. Jede taktweise Figur wird also auf einer Saite gespielt. Das macht die Sache doch ziemlich überschaubar.

2.2.3. Themen, Motive und Pattern

Als weitere strukturelle Eigenschaft der Etüden 3 und 4 sei hier die Figuren- oder Pattern-Gleichheit zu nennen. Dem Eingangs-Pattern im ersten Takt auf der G-Saite folgt ein Antwort-Pattern, ebenfalls auf der G-Saite. Für die rechte Hand bedeutet dies je einen gleichmäßigen und unbetonten Ab- und Aufstrich auf der G-Saite. Die linke Hand muss derweil das Pattern erfüllen. Dieses gilt es zu lernen und zu verinnerlichen, langsam und gleichmäßig. Wie das geht, darauf gehe ich später noch ein. Hier geht es zunächst noch um das Erfassen der Struktur der Etüde und das Verringern der Lernkurve. Dieselbe Pattern-Kombination wird danach auf der D-Saite, dann auf der A- und E-Saite wiederholt. Das bedeutet, dass ich das Pattern stellvertretend für die ersten acht Takte der Etüde nur ein Mal lernen muss! Es folgen weitere Patterns, die wiederum über alle Saiten gespielt werden, insgesamt handelt es sich bei der Etüde 3 um sieben, bei der Etüde 4 um sechs Patterns, die gelernt werden müssen. Es sind also nicht soundsoviel Takte, geschweige denn soundsoviel unglaublich „schnelle Noten“ oder so etwas, sondern jeweils sieben oder sechs zu lernende, sich wiederholende Figuren. Das ist doch ein ganz anderer Blick, oder? Ein entspannter Ansatz des Lernens wäre zum Beispiel: jeden Tag eines der Pattern (= 2 Takte), dann ist die Etüde nach einer Woche im Kasten (d.h. verinnerlicht spielbar, sodass damit gearbeitet werden kann).

2.2.4. Motiv-Struktur, Harmonie-Struktur

Lineare Motive

Der Aufbau der Etüden 5 und 17 gestaltet sich etwas anders. Die Etüde Nr 5 verläuft im G-Dur-Tonraum sehr linear. Hier sind lediglich die Eckpunkte der Melodieführung zu beachten, darüber hinaus lässt sich diese Etüde relativ schnell vom Blatt wegspielen.

Bild 5: Zitat Sitt, H. (Friedrich Hofmeister): Etüde Nr. 5 mit gekennzeichneten Eckpunkten

Die im obigen Bild gekennzeichneten Eckpunkte sind die Stellen, an denen ein neues Motiv einsetzt. Meistens handelt es sich dabei um einen Tonleiterausschnitt, gelegentlich auch um sich wiederholende Motive (z.B. Takt 2, 1. und 2. Viertel). Das motivische Erfassen und die einfach gehaltenen Motive begünstigen in diesem Fall das schnelle Lernen der Etüde.

Patterns im harmonischen Kontext

Eine andere Herausforderung an die Lernkurve stellt die Etüde Nr. 17 dar. Erleichtert wird hier das Erlernen durch einen harmonisch gestalteten Aufbau. Das Eingangsthema wird im 3. Takt dominantisch aufgegriffen und verarbeitet, ab Takt 5 kommen lineare Weiterführungen hinzu, die dem harmonischen Kontext und Verlauf gerecht werden. So ergibt sich ein gewisser musikalischer Sinn in dieser Komposition, obwohl es sich hierbei nur um eine Etüde handelt. Ich möchte nicht zu weit in die Analyse einsteigen. Es bleibt aber festzustellen, dass musikalische Strukturen auch in Etüden durch harmonische und motivische Verläufe existieren. Durch diese lassen sich zunächst unbekannte Stücke ordnen, sortieren und in Übe-Abschnitte einteilen. Dies verändert den Blick auf das zu erarbeitende Werk, sodass trotz zusätzlicher Herausforderungen, die ein Stück bringen mag, die Lernkurve so gering wie möglich gehalten werden kann.

Im Vergleich zu den Etüden 3 bis 5 geht es bei der Etüde Nr. 17 schon etwas kunterbunter zu, diese bietet zusätzlich die Herausforderung des Lagenwechsels.

2.3. Zwischenfazit: Strukturen erkennen

Es gilt also, bei Etüden die Lernkurve so gering wie möglich zu halten, um mit der jeweiligen Etüde möglichst schnell an den Punkt zu kommen, den Zweck der Etüde zu erfüllen. Dies gelingt am besten, indem man versucht, motivische, harmonische und technisch ähnliche Strukturen zu finden.

3. Lernen der Etüden

Nachdem der erste Schritt getan und die strukturellen Eigenschaften der jeweils vorliegenden Etüde erfasst worden sind, geht es daran, sich die Etüde zu erarbeiten, sie also zu lernen. Die hierfür sinnvollen Methoden möchte ich jetzt an einigen Beispielen darstellen.

3.1. Etüden Nr. 3 und 4

Die Etüden Nr. 3 und 4 sind in ihrer Art, was den motivischen und strukturellen Aufbau angeht, ähnlich. Sich wiederholende Patterns werden jeweils auf einer Saite über alle vier Saiten wiederholt. Es gibt in der Etüde Nr. 3 sieben verschiedene, in der Etüde Nr. 4 sechs verschiedene Patterns. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Etüden besteht darin, dass in der Etüde Nr. 3 triolische Achtel unter jeder Viertel-Zählzeit liegen (vergleichbar mit einer Gigue), während in der Etüde Nr. 4 zu jeder Viertel vier Sechzehntel zu spielen sind. Im Grunde stellt die Etüde Nr. 4 bei gleichem Tempo somit eine Steigerung der Etüde Nr. 3 dar.

Umgekehrt bedeutet dies, dass in der Etüde Nr. 3 weniger Töne auf einem Bogenstrich unterzubringen sind, bzw. jedem Ton etwas mehr Raum auf dem Bogen zur Verfügung steht. Damit geht es auch schon an den ersten Schritt des Erlernens, die gleichmäßige Verteilung der Töne innerhalb des Strichs.

3.1.1. Töne gleichmäßig verteilen

Um die Töne eines Taktes auf dem Bogen gleichmäßig zu verteilen, ist es unbedingt notwendig, für jeden Strich bei gleicher Strichgeschwindigkeit immer dieselbe Bogenmenge zu nehmen.

Am einfachsten geht dies, indem man als Bogenmenge zunächst den kompletten Bogen veranschlagt, also von ganz am Frosch bis ganz zur Spitze. Somit bekommt jedes Triolen-Päckchen (Etüde Nr. 3) ein Viertel des Bogens zugeteilt. Drei Töne in einem Viertel der Bogenlänge unterzubringen ist nicht schwierig. Im Gegenteil: Man wird dabei sehr schnell die Erfahrung machen, wie groß der Raum ist, der einem plötzlich zur Verfügung steht.

Teilmotive probieren

Bevor man den kompletten Takt versucht auf einem Bogen unterzubringen, ist es ratsam, Teilmotive innerhalb eines Bogenabschnitts zu spielen. Bleiben wir bei der Etüde Nr. 3, so kann ein Teilmotiv eines der Triolen-Päckchen sein. Drei Töne zu erfassen ist überschaubar. Diese sollten gleichmäßig innerhalb des ihnen zugedachten Bogenabschnitts gespielt werden. Danach kann die Bogenbewegung vorübergehend eingefroren werden, bis das nächste Teilmotiv in Gänze erfasst ist und im folgend zugedachten Bogenabschnitt gespielt werden kann:

Bild 6: Zitat aus Sitt, H. (Friedrich Hofmeister), Etüde Nr. 3, Takt 1: Darstellung der Teilmotive. Jedes Teilmotiv bekommt ein Viertel des Bogens. Nach jedem Teilmotiv wird eine Pause eingelegt, um das nächste Teilmotiv zu erfassen.
Komplexere Teilmotive

Man kann sehen, dass die Teilmotive des ersten Patterns dieser Etüde sehr linear gestaltet sind. Anders verhält es sich mit im Stück weiter hinten liegenden Patterns, hier sind schon einige Sprünge und Ecken drin, was das Erfassen durchaus komplexer macht:

Bild 7: Zitat aus Sitt, H. (Friedrich Hofmeister), Etüde Nr. 3, viertes Pattern, Variante auf der A-Saite

Hier ist das Spiel in Variationen angebracht, das Pattern wird in unterschiedliche Teilmotive zerlegt, allerdings wird der Original-Strich beibehalten. Die Teilmotive werden durch Pausen unterbrochen, sodass Zeit besteht, sich auf die nachfolgende Figur vorzubereiten. Dies kann erst motivweise mit beliebig Zeit dazwischen umgesetzt werden, anschließend sollten die Variationen in einem gleichmäßigen Metrum gespielt werden:

Bild 8: Übe-Variationen des vierten Patterns in der Variante der A-Saite der Etüde Nr. 3

Jedes der sieben Patterns der Etüde Nr. 3 sollte in dieser Weise in Variationen gespielt werden. Dies trainiert einerseits die Motorik in bereits korrekter Weise, daneben wird die Verteilung der Töne trainiert, außerdem werden die einzelnen Patterns und deren Teilmotive sehr schnell verinnerlicht.

Verinnerlichen der Motive und Patterns

Der Prozess des Verinnerlichens kann dann durch vielfaches Wiederholen begünstigt werden, wenn jeder Durchgang möglichst korrekt ausgeführt wird. Das bedeutet, dass man nicht erwarten sollte, dass nach einmaligem Spiel alles sofort und in schnell funktioniert. Vielmehr ist es wichtig, die Patterns und deren Variationen in ausreichend langsamer Weise zu spielen, und zwar so langsam, dass man sich selbst für jeden folgenden Schritt (Spielen eines Teilmotivs) ausreichend Zeit einräumt, diesen in korrekter Weise zu überblicken, vorzubereiten und in einem Schritt zu gehen.

4. Mit den Etüden arbeiten

Sobald es einem möglich ist, ohne größere Pausen oder Stolperer die Figuren wenigstens Patternweise durchzuspielen, hat man das Stadium erreicht, das Lied im Fluß zu spielen. Ab diesem Punkt kann die eigentliche Arbeit mit der Etüde beginnen.

4.1. Zielsetzung

Es lassen sich für die Arbeit mit den Geläufigkeitsübungen mehrere Ziele definieren, teilweise in Kombination untereinander.

4.1.1. Primäres Ziel: Laufenlassen der Finger

Als primäres Ziel kann das unverkrampfte und gleichmäßige Laufenlassen der Finger der linken Hand formuliert werden. Dabei ist das Tempo zunächst unerheblich. Dieses Ziel kann dann als erreicht angesehen werden, wenn die Etüde flüssig, ohne Unterbrechung und ohne große Anstrengung der Muskeln in der linken Hand und im linken Arm durchgespielt werden kann – auch in einem moderaten Tempo!

Hier lässt sich gut erkennen, dass sich das Erreichen dieses Ziels unmittelbar an das letzte Stadium der Erarbeitungs-Phase anschließen lässt. Entscheidend ist das flüssige, also unpausierte Durchspielen der Etüde, aber noch nicht das Tempo. Wohl aber ist darauf zu achten, dass das für das Durchspielen angesetzte Tempo erfüllt werden kann und die Finger der linken Hand locker laufen können.

4.1.2. Sekundäres Ziel: Selbstwahrnehmung

Das erste Ziel zu erreichen erfordert mitunter viel Konzentration, vor allem dann, wenn die Etüde erst frisch erlernt ist. Nur allzu oft entwickelt sich der Drang, die Etüde jetzt aber endlich mal schneller und unverkrampfter durchspielen zu wollen. Wieder und wieder wird die Etüde ausschließlich von Anfang an geübt, was dazu führt, dass spätere Patterns im Mittel seltener trainiert werden als die Eingangs-Patterns. Diese innere Ungeduld ist ein weit verbreitetes Phänomen.

Innere Ungeduld umwandeln

Hauptsächlich ist die innere Ungeduld die Ursache dafür, dass das Stück zu schnell und dem eigenen Können unangemessen gespielt wird. Dadurch erhöht sich in erheblichem Maße der Aufwand für die Konzentration auf das erreichen des primären Ziels, also das lockere und flüssige Durchspielen des Stücks. Dies führt zu Stolpereien und Verkrampfungen, letztlich also am primären Ziel komplett vorbei – erreicht durch unnötige Mehrarbeit.

Es ist also wichtig – und bei weitem keine leichte Aufgabe – mit der inneren Ungeduld umzugehen und zu versuchen, diese Haltung zu relativieren, und zuzulassen. Die innere Ungeduld entsteht aus Ansprüchen die man an sich selbst stellt. Woher diese kommen, kann unterschiedlichste Ursachen haben. Ich möchte hier nur einige Beispiele nennen, die allerdings, so scheint es mir, etwas ausführlicher zu beschreiben, interessant ist, denn den meisten Menschen fällt nicht auf, dass diese unerfüllten Ansprüche, die letztlich zur inneren Ungeduld, zum übermäßigen Aufwand bei der Erarbeitung und zum Verfehlen des Primärziels führen, aus eben diesen Arten von Ursachen resultieren.

Beispiel 1, Nachspielen von Gehörtem: Sicherlich kann es inspirierend sein, sich ein Stück, dessen Erarbeitung man sich vorgenommen hat, in verschiedenen Interpretationen anzuhören. Gerade weil diese Aufnahmen oder Vorträge oftmals hochvollendet sind, wirken sie wie eine perfekte Zielvorgabe. Dies betrifft das Umsetzungstempo, die Intonationsgenauigkeit, die Kraft der Aussage, den Habitus der interpretierenden Person und vieles mehr. Es spricht ja auch überhaupt nichts dagegen, sich von der schönen Wirkung dargebotener Musik mitreißen zu lassen.

Allein, die für den Übe- und Lernprozeß nicht zu unterschätzende Gefahr besteht hierbei, dass die gehörte Interpretation des Stückes sich als Klangbild und Anleitung zur Umsetzung des Stücks im eigenen Gedächtnis manifestiert. Gehörte Passagen und Läufe kurzer Notenwerte werden im Verhältnis zu länger zu haltenden Tönen und Motiven viel zu schnell oder zu langsam gespielt – weil an dieser Stelle die Erinnerung an das Gehörte einsetzt, und das Stück ja schließlich so und so klingen soll.

Kurz gesagt, man spielt wie, aber man spielt nicht selbst. Oder anders formuliert: anstatt selbst zu spielen, spielt man einer Klangidee hinterher.

Es ist nicht nur so, dass der Idee hinterhergespielt wird, nein, auch das reflexive Beobachten des eigenen Handelns setzt infolge dieser Perspektive vollkommen – oder wenigstens partiell – aus. Der Blick richtet sich dabei vornehmlich auf das Nachahmen gehörter Aufnahmen und nicht auf die korrekte Umsetzung des eigenen Handelns.

Dieses Phänomen kann ich sehr häufig bei Schülerinnen und Schülern (SuS) im Geigenunterricht beobachten und ist meines Erachtens nach eine der Hauptursachen für einen zu umständlichen Lernweg.

Es gibt aber auch weniger komplexe Ursachen, die zu Ungeduld führen können.

Beispiel 2, Vorgaben einer Lehrperson: Eine Bemerkung hier, eine kleine Ansage dort, ein kurzer Vortrag einer Passage mal eben zwischendurch. Bloße Vorgaben, denen kein Erkenntnisweg vorangegangen ist, bergen die Gefahr, unreflektiert versucht erfüllt zu werden. Äußerungen von Lehrern sollten im Instrumentalunterricht dazu dienen, reflexives Denken und Handeln des Schülers zu fördern. Wenn Vorgaben definiert werden, sollten diese auf der Erkenntnis des Schülers beruhen, also das behutsam geleitete Ergebnis dessen reflexiver Arbeit sein.

Beispiel 3, Tempoangaben: ♩ = 120, so oder ähnlich steht es oft geschrieben oberhalb des ersten Taktes. Dieser Wert kann nur eine Zielangabe und kein Übetempo sein. Es geht nicht darum, sofort das Zieltempo zu erreichen. Vielmehr geht es darum, möglichst unmittelbar die Grundlagen für das Erreichen dieses Zieltempos zu schaffen, indem man die erste und zweite Phase des Lernens eines Stückes mit Bedacht umsetzt. Wer sich hier zu schnell von irgendwelchen Tempovorgaben leiten lässt, wird durch die aufkommende Ungeduld eher früher als später an seine Grenzen stoßen.

Beispiel 4, Vortragsbezeichnungen: Als eine schöne Falle für zu wenig Geduld im Lernprozess offenbaren sich Übungen zum Staccato, zum Beispiel die Etüde Nr. 5 von Kayser. Hier nur der Anfang, um zu zeigen, worum es geht:

Bild 9: Zitat aus H.E. Kayser, Op. 20, Etüde Nr. 5

Vorgegeben ist ein Allegro vivace, zu spielen im Staccato. Dass die Etüde für ein lebendiges Staccato in einem einigermaßen fortgeschrittenen Tempo gespielt werden sollte, steht außer Frage. Tunlichst aber sollte vermieden werden, die Etüde direkt zu Beginn im Staccato spielen zu wollen. Damit der Bogen überhaupt eine Chance hat, die ihm eigene Sprungdynamik zur Geltung zu bringen, darf der Melodiefluss nicht durch Temposchwankungen unterbrochen werden, die durch vorbereitende Überlegungen oder Stolpereien zustande kommen. In jedem Fall sollte man sich die Etüde mit breitem Strich aneignen, so weit, bis sie ohne Unterbrechung durchspielbar ist. Erst danach ist das Üben der Strichart des Staccato gefragt.

Beispiel 5, Zeitpläne: Ja das sind natürlich Vorgaben, die einem immer von außen begegnen können. Das extremste Beispiel sei hier genannt, denn es verdeutlicht sehr gut die Notwendigkeit, einen sinnvollen Umgang mit Zeitplänen zu finden: Es gibt so viel Geigenliteratur, wie viel davon möchtest du in deinem Geigenleben jemals umgesetzt haben? Eine etwas schwächere Form dieses Zeitplans ist: Bis zum Ende des Semesters sind die Stücke X und Y zu lernen und dann vorzutragen!

Vorgaben können innere Ungeduld erzeugen

All die genannten Beispiele können Ursache für zu hohe Ansprüche und demzufolge innere Ungeduld sein. Damit diese dem Erreichen des Primärziels nicht im Wege stehen, ist es wichtig, einen konstruktiven Umgang mit den überall vorhandenen Impulsen, die solche Ansprüche beflügeln und eine solche Ungeduld auslösen können, zu finden.

Relativ unendliches Verweilen

Wie sieht der konstruktive Umgang mit innerer Ungeduld aus? Die Antwort darauf würde ich so beschreiben: Man muss dafür sorgen, die innere Ungeduld in „relativ unendliches Verweilen“ zu verwandeln.

Der Blick ins Detail

Was ist damit gemeint? Jeder Schritt, der zur Erzeugung eines Tones auf der Geige gegangen wird, ist im Detail betrachtet immer eine Kombination mehrerer Einzelschritte. Viele Arten solcher Einzelschritte bilden die Grundlage für den jeweils darauffolgenden Einzelschritt, oder sie stehen untereinander in einem anderen kausalen Zusammenhang. So setzt zum Beispiel das Spielen eines einfachen Tones nicht nur dessen Intonation, sondern auch das gleichmäßige Streichen, das Einhalten der Streichposition (also die Position des Bogens zwischen Steg und Griffbrett) usw. voraus. Es ist wichtig zu verstehen, dass der korrekte Ablauf dieser Einzelschritte wesentliche Voraussetzung zur Erfüllung eines ganzen Schritts ist.

Vorbereitung des zu gehenden Schrittes

Nehmen wir den Beginn der Etüde Nr. 3 in der ersten Übevariante: Hier sind die Töne g-a-h im unteren Viertel des Bogens mit dem Strich unmittelbar am Frosch beginnend zu streichen. Das bedeutet in Einzelschritte übersetzt: Setze die Geige an, setze den Bogen am Frosch auf die angedachte Saite an der angedachten Bogenposition, halte die linke Hand und deren ersten und zweiten Finger bereit und warte!

Der Zustand relativer Unendlichkeit

An dieser Stelle setzt die relative Unendlichkeit ein. In den allermeisten Fällen wäre der erwartete nächste Einzelschritt gewesen, die drei Töne loszuspielen. Stattdessen soll aber gewartet werden. Worauf und wie lange?

Warten: Worauf und wie lange?

Die Frage, wie lange gewartet werden soll, ist einfach zu beantworten, und zwar soll so lange gewartet werden, bis die Dinge, die sich hinter der worauf-Frage verbergen, geklärt sind. Das Klären der worauf-Frage unterliegt keiner zeitlichen Begrenzung, sondern ist allein inhaltlicher Natur. Ob die sich darin verbergenden Fragen sofort, oder erst nach einigen Sekunden oder gar Minuten geklärt sind, ist offen. Dies ist der Zustand, den ich als relative Unendlichkeit bezeichne. Unendlich deswegen, da die Klärung der offenen Fragen keiner zeitlichen Beschränkung unterworfen sein sollte. Relativ deshalb, da dieser Zustand natürlich irgendwann verlassen wird und außerdem, weil das Verweilen innerhalb dieses Zustands auf das Subjekt – also auf einen selbst – meist sehr lange, nahezu unendlich wirkt, denn man muss diesem Zustand (wenigstens theoretisch) unendlich viel Zeit einräumen. Allerdings ist das kein passiver Zustand, sondern ein sehr aktiver. Zu klären ist ja noch, worauf gewartet wird.

Überprüfung der Vorbereitungen

Blicken wir auf die Vorbereitungen zu diesem Schritt zurück, so sehen wir mindestens sieben verschiedene vorbereitende Maßnahmen, die getroffen wurden, um den Ausgangspunkt für den Einzelschritt herzustellen. Es ist in jedem Fall keine vertane Mühe, noch einmal zu überprüfen, ob jede dieser kleinen vorbereitenden Maßnahmen derart umgesetzt ist, dass sie ihren Zweck erfüllt. Einfache Fragen: Bin ich auf der richtigen Saite? Habe ich genug Platz zum Streichen? Befindet sich mein Bogen an der richtigen Streichposition? Streiche ich exakt vom Frosch los? Ist meine linke Hand in der korrekten Lage, sodass die Töne gezielt getroffen werden können? Und so weiter. Kurzum: Es geht nicht nur darum, den Schritt vorzubereiten, sondern auch die Vorbereitungen zu überprüfen.

Blick auf die eigene Intention

Die nächste worauf-Frage, die geklärt werden kann, richtet sich an die eigene Intention. Diese ist selbstverständlich bereits formuliert, indem man sich wie in diesem Beispiel vorgenommen hat, die ersten drei Töne im unteren Bogenviertel gleichmäßig verteilt zu spielen. Dennoch ist es sinnvoll, nach all den kleinen Vorbereitungen ein wenig im Moment der relativen Unendlichkeit zu verweilen und sich zu vergegenwärtigen, welche Einzelschritte (Strich bis zum unteren Viertel, Töne g-a-h) man gleich in einem Gesamtschritt gehen wird. Das sich mentale Einstellen auf kommende Bewegungsabläufe hilft der eigenen Motorik, diese Schritte auch so auszuführen.

Darüberhinaus hat das intensive mentale Vorbereiten auch noch den Vorteil, dass der nachfolgende Schritt, der gedanklich ja bereits mehr oder weniger in Perfektion abläuft, mit dem real ausgeführten Schritt unmittelbar verglichen werden kann. Dessen Durchführung schließt sich ja unmittelbar an den Reflexionsmoment an.

Diese beiden reflexiven Blicke, die Überprüfung der Vorbereitung und der Blick auf die Intention stellen den Moment zwischen Vorbereitung und Durchführung des nächsten Schritts dar. Diesen Zustand bezeichne ich als das Verweilen in relativer Unendlichkeit.

HINT: Da diese nicht immer offensichtlich sind, ist es Aufgabe der Lehrperson, den Blick der SuS für diese Einzelschritte zu schärfen und die für das Umsetzen und Trainieren dieser Einzelschritte zu motivieren.

Durchführung überprüfen

Im Anschluss an den Reflexionsmoment ist die Durchführung an der Reihe. Diese ist aufgrund der unmittelbar vorangegangenen zeitlichen Nähe zur reflektierten Intention hinsichtlich Korrektheit und Qualität der Ausführung eigentlich ziemlich leicht zu überprüfen. Allerdings sollte auch die Überprüfung stattfinden! Nur zu oft wird zur Kenntnis genommen, dass Anspruch, erwartetes Resultat und Realität nicht zusammenpassen und damit der Durchführungsteil beendet. Doch weder wird nach den Ursachen gesucht, noch eine Auswertung eventuell gefundener Ursachen vorgenommen. Überprüfen heißt: ohne negative Bewertung Fehler zur Kenntnis nehmen, Ursachen für die Diskrepanz zu finden und beim nächsten Versuch etwas zu verändern.

Selbstwahrnehmung als Sekundärziel

Das Ausüben und Trainieren der Selbstwahrnehmung ist ein wesentliches Ziel in jedem Lernprozess, und da jede Trainingsstufe der Etüden als Lernprozess verstanden werden kann, genießt die Selbstwahrnehmung daher den Status des Sekundärziels in der Arbeit mit den Etüden.

4.1.3. Tertiäres Ziel: Temposteigerung

Auf Grundlage des Primärziels, des gleichmäßigen und unterbrechungsfreien Durchspielens und des Sekundärziels, der Ausübung der Reflexionsarbeit, kann das dritte große Ziel, die systematische Steigerung des Tempos angegangen werden.

Das systematische Steigern des Tempos ist sehr einfach. Das Prinzip ist, die zu lernende Figur ausgehend vom aktuellen, spielfähigen Tempo abschnittsweise mit verkürzten Tönen, die im Zusammenspiel der Tondauer des neuen Zieltempos entsprechen, zu trainieren.

Die Methode sei hier eingangs kurz dargestellt, ich werde sie weiter unten ausführlicher beschreiben.

Bild 10: Temposteigerung, Beispiel 1: Die zu steigernde Figur besteht aus vier Achteltriolen. Das spielfähige Ausgangstempo beträgt ♩ = 60.
Bild 11: Temposteigerung, Beispiel 2: Im Ausgangstempo (♩ = 60) wird jede Triole in sechzehntel umgewandelt. Zusätzlich wird eine Sechzehntelpause eingefügt. Der so verkürzte Notenwert entspricht bereits der Tondauer einer Achtelnote im neuen Zieltempo. Die Pausen sorgen dafür, dass abschnittsweise trainiert werden kann.
Bild 12: Temposteigerung, Beispiel 3: Im Zieltempo (♩ = 80) wird die Figur nun in ihrer Originalform, d.h. ohne Pausen gespielt. Die Tondauer entspricht einer Sechzehntelnote aus dem Beispiel 2.

Ich möchte jetzt ausführlicher und bezogen auf die Geläufigkeitsetüden die Methode der systematischen Temposteigerung beschreiben.

Ermitteln des Flusstempos

Zunächst ist es wichtig, ein Ausgangstempo für sich selbst zu finden. Das Kriterium für das Ausgangstempo muss sein, dass das zu steigernde Stück in diesem Tempo unterbrechungsfrei, korrekt und unverkrampft vollständig durchgespielt werden kann. Es ist nicht schlimm, wenn dies erst einmal ein sehr langsames Tempo ist. Die Steigerung des Tempos soll ja noch erfolgen. Hat man einigermaßen das Flusstempo ermittelt, ist der nächste Schritt an der Reihe.

Sich einstellen auf das Fließtempo

Die Ermittlung des Ausgangstempos ist das eine, das Spielen zusammen mit einem Metronom ist das andere. Gesetzt den Fall, das ermittelte Ausgangstempo ist sehr langsam, zum Beispiel ♩ = 40 oder darunter, dann sind angesetzte Viertel-Metronomschläge zeitlich sehr weit voneinander entfernt, und es ist mitunter schwer, die Achtel einer Triole über diese Zeitspanne gleichmäßig zu verteilen. In diesem Fall bietet es sich an, das Metronom auf Achtelschläge umzustellen. Damit nach wie vor dasselbe Ausgangstempo bedient wird, muss bei der Umstellung auf Achtel das Tempo auf ♪ = 180 umgestellt werden.

Systematische Steigerung des Tempos

Ich möchte nun die Methode der systematischen Temposteigerung ausführlich beschreiben und nehme hierfür zwei Beispielfiguren, von denen aus die Methode leicht auf die Etüden übertragen werden kann.

Die erste Figur ist das bereits oben erwähnte Triolenthema:

Bild 13: Beispielfigur 1: Triolenthema

Das zweite Beispiel ist ein geradzahliges Thema in Sechzehnteln. Hier unterscheiden sich die Anzahl der Steigerungsvarianten und das Verhältnis von Ausgangs- und Steigerungstempo von denen des triolischen Themas.

Bild 14: Beispielfigur 2: Sechzehntelthema, Tempo ♩ = 40
Abschnitte umwandeln in kürzere Notenwerte

Um das Steigerungstempo zu trainieren, muss das Ausgangsthema in kurze, überschaubare Abschnitte unterteilt werden, zwischen denen pausiert wird. Es ist dabei hilfreich sich noch einmal zu vergegenwärtigen, was es bedeutet, ein Stück oder eine Passage schneller zu spielen: Ein Stück schneller zu spielen bedeutet, dass jede Tondauer des Stücks verkürzt wird. Jeder Ton dauert weniger lange. Aus Geigensicht hieße das zum Beispiel, dass der Bogenstrich eher umgedreht werde. Es wäre also weniger zu tun, allerdings auf Kosten der Zeit, die einem zum Überblicken des Geschehens bliebe. An dieser Stelle kommen die eingefügten Pausen ins Spiel, die einem beim Trainieren gewisse Ruhemomente schaffen.

Zur Verkürzung der Tondauer sucht man sich einen Wert, der einem Teil des Ausgangstempos und des Steigerungstempos entspricht, und zwar idealerweise den nächstkleineren, damit die Steigerungsrate nicht zu groß ausfällt. Hier muss man im Umgang mit dem triolischen Thema und dem Sechzehntelthema differenzieren.

Der nächstkleinere Notenwert des triolischen Themas sind einfache Sechzehntel. Um auf die volle Taktlänge zu kommen, schließt sich an jede umgewandelte Triole eine Sechzehntelpause an:

Bild 15: Triolisches Thema: Erste Übevariante nach Umwandlung in Sechzehntel

Die Triolen werden mittels einer zusätzlichen Pause in geradzahlige Figuren umgewandelt.

Der nächstkleinere Notenwert der 16tel im Sechzehntelthema sind nicht etwa 32tel, sondern 16tel-Sextolen. Man bedenke: Würde man 32tel veranschlagen, so wäre die neue Tondauer bereits um die Hälfte gekürzt, man hätte es mit dem doppelten Tempo zu tun! Indem man 16tel-Sextolen nimmt, verkürzt man die Tondauer lediglich um ein Drittel, was auch schon ziemlich viel ist. Als Ausgleich hat man dafür aber die Möglichkeit, zwei 16tel-Pausen in die Sextolen einzufügen, sodass man am Ende auf den vollen Takt kommt:

Bild 16: Sechzehntelthema: Erste Übevariante nach Umwandlung in 16tel-Sextolen
Deklinieren der Übevarianten

Nun folgt das Durchgehen aller möglichen oder sinnvollen Übevarianten. Ich schreibe „möglich oder sinnvoll“, weil beim Sechzehntelthema theoretisch noch mehr Varianten möglich wären, aber nur diejenigen sinnvoll sind, bei denen vier Sechzehntel hintereinander zusammenhängend gespielt werden müssen.

Zunächst die weiteren Übevarianten für das Triolenthema:

Bild 17: Triolenthema: 2. Übevariante, Sechzehntelpasue an zweiter Stelle
Bild 18: Triolenthema: 3. Übevariante, Sechzehntelpause an dritter Stelle

Und nun die Übevarianten für das Sechzehntelthema:

Bild 19: Sechzehntelthema: 2. Übevariante
Bild 20: Sechzehntelthema: 3. Übevariante
Bild 21: Sechzehntelthema: 4. Übevariante
Steigerungstempo probieren

Wenn man alle Varianten ausreichend trainiert hat, kann man versuchen, die Figuren im Steigerungstempo zu spielen. Beim Triolenthema handelt es sich um das 1,3-fache des Ausgangstempos, beim Sechzehntelthema um das 1,5-fache. Das Gute ist ja, dass in den Übevarianten die Figuren – wenn auch unterbrochen – bereits im Steigerungstempo gespielt worden sind. Der Unterschied zum Spiel im Steigerungstempo ist also lediglich, dass hier die Pausen entfallen.

Bild 22: Das Triolenthema im Steigerungstempo.
Bild 23: Das Sechzehntelthema im Steigerungstempo
Anwendung auf die Etüden

Die Ähnlichkeit dieser Beispiele zu den Etüden Nr. 3 und 4 ist deutlich zu erkennen, das Prinzip kann auf die Figuren der Etüden leicht übertragen werden.

Das tertiäre Ziel zusammengefasst

Hat man für sich ein Flusstempo gefunden, so lässt sich dieses als Ausgangstempo für die Temposteigerung benutzen.

Handelt es sich bei den zu streigernden Figuren um triolische Motive, sind diese in die nächstkleineren geradzahligen Notenwerte umzuwandeln, aus denen dann die verschiedenen Übevarianten gebildet werden. Beispiel: Eine Achteltriole ergibt drei Sechzehntel und eine Sechzehntelpause.

Wenn es sich um geradzahlige Motive handelt, die man steigern möchte, so wandelt man die gerade Figur in die nächstkleinere N-tole um, die den Zweck erfüllt, dass das Ausgangsmotiv einzelmotivisch zusammenhängend gespielt werden kann. Beispiel: Vier Sechzehntel ergeben eine Sechzehntel-Sextole unter Zuhilfenahme zweier hinzugefügter Sechzehntelpausen.

Die Steigerungstempo für triolische Motive ist das Ausgangstempo multipliziert mit 1,3. Ungerundet mit 1,3 Periode.

Das Steigerungstempo für geradzahlige Motive, die in Sechzehntel-Sextolen umgewandelt werden ist das Ausgangstempo multipliziert mit 1,5.

5. Fazit

Das Erlernen der Geläufigkeitsübungen und die Arbeit mit ihnen kann, wie wir gesehen haben, sehr vielschichtig gestaltet werden.

Das strukturelle Erfassen bietet viele Möglichkeiten zur Verringerung der Lernkurve.

Der Lernprozess selbst kann methodisch angegangen werden, indem dieser der Phase der Arbeit mit den Etüden vorangestellt und inhaltlich von deren Zielen abgekoppelt wird.

In der Arbeitsphase können Primär, Sekundär- und Tertiärziele definiert werden, die viele unterschiedliche Kompetenzbereiche berühren.

Will man die beschriebenen Methoden konsequent anwenden, muss man sehr diszipliniert vorgehen, was nicht notwendigerweise leicht fällt. Nur allzu leicht wendet sich der Blick anderen Dingen zu. In jedem Fall kann es hilfreich sein, sich von einer erfahrenen Lehrperson in diesem Prozess unterstützen zu lassen.

Nichtsdestotrotz kann das systematische Vorgehen auch viel Freude bereiten, denn es lassen sich schnell messbare Erfolge damit erzielen und gleichzeitig bietet sich einem die Möglichkeit, den Ballast des ziellos-schwammigen Herumprobierens hinter sich zu lassen.

Das sind doch schöne Aussichten, oder?

Anmerkungen

Natürlich ließen sich auch andere Steigerungsverhältnisse finden, diese ergäben andere rhythmische Strukturen, der Phantasie sind hier keine Grenzen gesetzt. Als ein Beispiel sei hier nur die Umwandlung einer Sechzehntel-Figur in eine 5-tole genannt.

Allgemeine Berechnungsformel

Wer es etwas mathematischer mag, die allgemeine Umrechnungsformel sei hier kurz dargestellt:

temposteig = tempoausn/m

Zur Erläuterung: Das neue Tempo temposteig berechnet sich aus dem Ausgangstempo tempoaus multipliziert mit dem Verhältnis aus der Anzahl der neuen Einheit n zu der bisherigen Einheit m.

Ein Beispiel: Ausgangstempo ist tempoaus = 60. Die bisherige Einheit besteht aus 4 Sechzehnteln, also ist m = 4. Zum Üben soll die Figur in Sextolen umgewandelt werden. Die neue Einheit ist also n = 6. Mit der Formel

temposteig = tempoausn/m

ergibt sich also

temposteig = 60 ⋅ 6/4 = 90

Bildnachweis und Quellen der Bildzitate

  • Bild 1-7: Bildzitate aus Schule der Geläufigkeit und Fingerfertigkeit Op. 135, Heft 1 von Hans Sitt, mit freundlicher Genehmigung des Friedrich Hofmeister Verlages -Leipzig, Scan durch NJD
  • Bild 6: Nachbearbeitung durch NJD
  • Bild 9: H.E. Kayser, 36 Etüden Op. 20, Zitat aus Schirmer 1915
  • Bild 8,10-23: NJD