Tägliches Training, Teil 1: Bogenübungen

Wie im Sport ist Konditionstraining beim Geigenspiel eine sinnvolle Sache. Ohne langwierig Argumente für oder wider die Frage, welche Übungen sinnvoll oder zweckmäßig sind, zu diskutieren, möchte ich hier zeigen, mit welchem Programm ich mich (mehr oder weniger) täglich auf der Geige fit halte.

Hier ein Auszug der stichpunktartigen Notizen zu meinen Übungen.

Aufbau des Trainings

Konzeptionell beginne ich das Training mit verschiedenen Bogenübungen. Danach gehe ich zu Übungen zur Lockerung der linken Hand, also zu Geläufigkeitsübungen über. Im Anschluss konzentriere ich mich auf verschiedene Übungen zur Koordination der rechten und linken Hand. Hierfür spiele ich verschiedene Etüden, deren Verlauf ich ausreichend verinnerlicht habe, sodass ich mich auf das eigentliche Übungsziel konzentrieren kann. Über weitere Etüden nehme ich nach und nach verschiedene Trainingsaspekte, wie zum Beispiel Lagenspiel, Arpeggien oder Bogentechniken hinzu. Das nimmt dann je nach Trainingstag individuellere Formen an. Am Schluss des Trainings spiele ich mehrere Etüden einfach durch. Damit ist das Konditionstraining beendet.

Erst jetzt widme ich mich der Literatur, denn hier fallen alle Aspekte des Spiels, wie Fingerfertigkeit, Ausdruck, Lagenspiel, Bogentechnik, usw. zusammen. Ich werde im Verlauf alle Trainingsabschnitte im Einzelnen durchgehen. Zunächst nochmal eine Übersicht über die Struktur des Trainingsablaufs:

  1. Bogenübungen
  2. Geläufigkeitsübungen
  3. Koordination
  4. Etüden zum Training bestimmter Techniken
  5. Durchspiel-Etüden
  6. Literatur

Bogenübungen

Gleichmäßiges Streichen

Ich beginne mit Übungen zur gleichmäßigen Bogenführung. Hierfür nehme ich die Etüde No. 29 aus der Schule der Bogentechnik Op. 2 von O. Sevcik (Heft III). Da ich diese schon oft gespielt habe, wähle ich mir jeweils eine der Varianten 79-86.

In diesen Varianten achte ich vor allem auf Strich in Stegnähe, sowie langsame und gleichmäßige Bogenführung über den gesamten Bogen. Ich spiele jeden Takt zwei Mal hintereinander, sodass ich mich mit dem Bogen zu Beginn des darauffolgenden Taktes wieder an der Ausgangsposition befinde.

Durch gleichbleibendes Streichtempo (damit meine ich die Bewegungsgeschwindigkeit des Bogens während eines Strichs) versuche ich, ein gleichbleibendes Metrum zu erzeugen. Daher spiele ich diese Übung auch nicht unter Zuhilfenahme eines Metronoms. Vielmehr gehe ich in den neuen Ton dann hinein, wann die Zeit dafür gekommen ist. Das ist immer ganz am Frosch oder ganz an der Spitze oder exakt in der Mitte des Bogens — nämlich nach einem Saitenwechsel — der Fall. Streiche ich zuvor versehentlich zu schnell, so ist jeweils einer dieser Punkte zu früh erreicht, und mein Spiel resultiert in einem ungleichmäßigen Metrum, das wahrnehmbar ist. In derselben Weise liefert ein zu langsamer Strich eine wahrnehmbare Unregelmäßigkeit im Metrum. Diese Art Unregelmäßigkeiten, die zu Beginn dieser Übung eigentlich immer auftauchen, lassen mich erahnen, ob und bei welcher Gelegenheit ich meine Streichgeschwindigkeit versehentlich verändere. Es gilt also, darauf zu achten, den gleichmäßigen Strich an jeder Bogenposition umzusetzen. Im weiteren Verlauf der Übung entwickelt sich dadurch ein Gefühl für die ausgeglichene Streichgeschwindigkeit. Auch die korrekten Punkte des Strich-, bzw. Saitenwechsels lassen sich dadurch sehr gut erahnen. Auf diese Weise bringe ich mein Zeitgefühl und meine Motorik langsam in Einklang, und dies geschieht unabhängig von einem vorgegebenen Metrum. Dies ist der Kern der gesamten Übung.

Als Nachtrag sei noch erwähnt, dass bei zweimaligem Spielen eines jeden Taktes und moderater Streichgeschwindigkeit die Übung etwa 15 Minuten dauert.

Als weitere Übung spiele ich dieselbe zuvor ausgewählte Variante mit bewusst und weitaus zügigerem Strich, wohl aber darauf Acht gebend, mit ebenfalls derselben Gleichmässigkeit zu streichen.

Wellen-Legato

Eine weitere schöne Übung zum Trainieren der Gleichmäßigkeit des Strichs ist das Wellen-Legato. Das ist mein persönlicher Arbeitstitel für die Varianten 420 und 421 der Etüde No. 29. Auch hier geht es darum, die gesamte Weite des Bogens zu nutzen und jedem Ton auf dem Bogen gleichviel Platz einzuräumen. Bei gleichmäßig gehaltenem Strich entsteht hierdurch ebenfalls ein gleichmäßiges Metrum.

Ein weiterer Aspekt dieser Übung ist, den Bewegungsradius des rechten Armes beim Saitenwechsel möglichst gering zu halten. Hierzu bediene ich mich des perspektivischen Ansatzes, dass ich im Grunde auf zwei Saiten gleichzeitig streiche, und nur diejenige für den Augenblick verlasse, die gerade nicht klingen soll. Aus diesem Blickwinkel habe ich nämlich nicht den Weg „von der einen bis zur anderen Saite“ zurückzulegen. Es reicht vielmehr aus, die Streichebene nur so weit zu verändern, dass die betreffende Saite nicht mehr klingt. Mit der filigranen Nähe zu beiden Saiten lässt sich sehr gut experimentieren während dieser Übung. In der Nähe des Frosches wird die Anpassung der Streichebene durch die Drehung des rechten Unterarms erreicht, an der Spitze des Bogens durch eine Auf- und Abwärtsbewegung des rechten Unterarms.

In dieser Übung spiele ich jeden Takt ein Mal. Allerdings spiele ich diese oder umliegende Varianten jeweils zwei Mal durch.

Martelé

Zugegeben, nicht meine Lieblingsübung, wenigstens nicht in der Grundform, die ich gleich beschreiben werde, aber dennoch ein sinnvolles Training.

Wieder die Etüde No. 29, in der Variation 79, allerdings mit jedem Ton als Martellato-Strich, also entsprechend angerissen und entsprechend zügig und ausklingend. Sinn der ganzen Übung ist… nun ja, das Training des Martelé. Die Schwierigkeit dieses Strichs liegt darin, die geradlinige Bogenführung beizubehalten und das gilt es zu trainieren.

Die Grundform ist die besagte Variante 79, es empfiehlt sich auch die Variante 80 oder die Varianten 79 und 80 mit jeweils anderer Bogeneinteilung, z.B. 3/4 zu 1/4 (Also jeweils punktierte 4tel und 8tel in Folge).

Spiccato

Die nächste Übung findet in der unteren Hälfte bis Mitte des Bogens statt. Hierzu nehme ich die Variante 537 der Etüde No. 29 zunächst in einem langsamen Tempo, sodass ich nicht ins Sautillé falle.

Nun zur Durchführung der ganzen Sache: Spiccato ist ein Strichart, bei der die dem Bogen eigene Sprungdynamik zur Geltung kommt. Vielfach wird gelehrt, dass man den Bogen auf die Saite fallen lassen müsse, um die federnde Wirkung zu erzielen. Das ist letztlich in der praktischen Anwendung auch richtig so. Ich habe im Unterricht meiner Schüler allerdings wahrgenommen, dass der Begriff des Fallenlassens tendenziell zu der Auffassung führt, der Bogen müsse einerseits getragen werden, um anschließend auf die Saite gehauen zu werden. Der für mich erfolgreichste Ansatz in der Vermittlung und eigenen Anwendung dieses Strichs besteht darin, das Spiccato wie ein langsames Sautillé umzusetzen.

Das bedeutet, dass ich den Bogen zunächst auf der Saite mit etwas Druck des Zeigefingers streiche und das Herauffedern durch ein unmittelbares Freilassen des Bogens herbeigeführe, indem ich den Druck des Zeigefingers wegnehme. Noch zu demselben Strich gehört das sich unmittelbar anschließende erneute Landen des Bogens auf der Saite. In dieser Folge (Strich mit etwas Druck → Freilassen des Bogens → erneutes Landen auf der Saite) entwickelt sich eine Spiccato-Dynamik, ohne dass Gefahr besteht, durch vermeintliches „Tragen“ des Bogens zu verkrampft kontrolliert den Bogen zu führen.

Ich beginne zunächst mit einem langsamen Spiccato im unteren Viertel des Bogens. Anschließend begebe ich mich in die Mitte des Bogens, um dort dieselbe Übung in einem anderen Tempo zu probieren. Danach nehme ich mir die Variante 539, sowie 544 vor und vielleicht noch eine der umliegenden Varianten, um etwas Abwechslung in die Sache zu bringen. Auch hier spiele ich in jeder Variante jeden Takt zwei Mal. Das ganze spiele ich nicht zu schnell, denn es soll ja der gleichmäßige Spiccato-Strich trainiert werden.

Zufallsübung

Um den Trainingsabschnitt Bogenübungen abzuschließen, suche ich mir nach dem Zufallsprinzip noch eine weitere Variante der No. 29 aus.

Hiermit ist der Trainingsabschnitt der Bogenübungen beendet. Natürlich gibt es viele weitere Arten von Bogenübungen und Stricharten, die hier ergänzend genannt werden können. Das würde an dieser Stelle aber den Rahmen für das einfache Konditionstraining sprengen.

Im nächsten Teil folgen Übungen zur Geläufigkeit und Fingerfertigkeit.

Wünsche eine schöne Woche bis dahin!